Rund 1,9 Millionen Autos transportiert der Fahrzeuglogistiker Hödlmayr aus Schwertberg jedes Jahr quer durch Europa. Gerade einmal zehn Prozent davon per Bahn, den großen Rest mit dem Lastwagen. Obwohl die Autobahnen immer öfter verstopft sind und es immer schwieriger wird, genügend Fahrer für die 600 firmeneigenen Lkw zu finden, ist das oft schneller und günstiger als die Fahrzeuge mit dem Zug zu transportieren. Nicht selten ist es auch alternativlos. Denn die Bahn steht sich selbst im Weg.
Hödlmayr besitzt 24 Zuggarnituren mit rund 500 Spezialtransportwaggons, die Lokomotiven dazu lassen sich ohne allzu großen Aufwand bei externen Traktionsdienstleistern anmieten. Einen Zug quer durch Europa zu führen, ist aber auch im Jahr 2024 noch ein höchst komplexes Unterfangen. Moderne Lokomotiven kommen zwar inzwischen mit den vier verschiedenen Stromsystemen in Europa – Gleich- und Wechselstrom, jeweils in unterschiedlichen Spannungen und Frequenzen – gut zurecht, und das einheitliche europäische Zugsicherungssystem ETCS löst jetzt nach jahrzehntelanger Planung ganz langsam das gute Dutzend nationaler Sicherheitssysteme ab. Aber für die meisten Lokführer ist an der nächsten Staatsgrenze Endstation: Sie müssen nicht nur in jedem Land eine Prüfung über die nationalen Besonderheiten wie Signale und Betriebsvorschriften ablegen, sondern auch die jeweilige Landessprache nahezu fließend beherrschen.
Das macht den Bahnbetrieb langsam, unflexibel und teuer. Da verwundert es kaum, dass heute 77 Prozent des Güterverkehrs in der EU auf der Straße abgewickelt werden und nur 17 Prozent auf der Schiene. Während das Volumen der Straßentransporte immer weiter ansteigt, müssen die Bahnen schon froh sein, wenn ihr Anteil am Transportkuchen wenigstens annährend gleich groß bleibt und nicht weiter schrumpft. Fakt ist: Das Wachstum im europäischen Güterverkehr findet heute vor allem auf den ohnehin schon stark ausgelasteten Autobahnen und Fernstraßen statt. Die Bahn kann mit diesem Tempo nicht mithalten.
Johannes Alexander Hödlmayr, designierter Geschäftsführer des gleichnamigen oberösterreichischen Familienbetriebs, hat den Optimismus dennoch nicht verloren: “Ja, diese Themen sind eine Challenge. Aber ich bin guter Dinge, dass sich das besser entwickeln wird. Die Bahn ist eine jener Technologien, die der EU dabei helfen könnte, die CO2-Ziele zu erreichen. Vorausgesetzt, man schafft die Rahmenbedingungen dafür.” Hödlmayr ist überzeugt, dass er schon bald mehr seiner Neu- und Gebrauchtwagen per Bahn statt mit dem Lkw von der Nordsee auf den Balkan und vom Mittelmeer an den Bosporus transportieren kann. Auf eine genaue Prozentzahl will er sich dabei im Gespräch mit Life Radio-Reporter Daniel Kortschak allerdings ebenso wenig festlegen wie auf einen Zeithorizont. Zu groß sind da die aktuellen Probleme im europäischen Bahnnetz.
Kaputte Schienen bremsen Züge aus
Vor allem der Zustand der Schieneninfrastruktur bereitet Spediteuren, Fahrgästen und Bahnmitarbeitern in weiten Teilen Europas tagtäglich viel Kummer: Züge stauen sich auf heillos überlasteten Strecken, warten auf freie Gleise in völlig überfüllten Bahnhöfen und werden regelmäßig durch technische Störungen und den immer dramatischer werdenden Personalmangel ausgebremst. Besonders Deutschland sticht da negativ hervor, das wichtige Transitland mitten in Europa entwickelt sich immer mehr zu einem gewaltigen Flaschenhals für die internationalen Warenströme. “In den letzten zehn, 15 Jahren wurde nicht in die Bahn-Infrastruktur investiert. In Deutschland nicht. Und in anderen Ländern auch nicht”, erklärt Edwin Moehlig. Er leitet die belgische Niederlassung von Rail & Sea. Die Spedition mit Hauptsitz in Seekirchen am Wallersee hat sich auf europaweite Bahntransporte spezialisiert und führt unter anderem beinahe jeden Tag einen kompletten Güterzug vom Hafen Antwerpen nach Linz und wieder zurück.
Von der Nordsee an die Donau transportiert der Zug Rohstoffe und verschiedene Importwaren, auf der Rückfahrt nimmt er Produkte mit, die in Österreich, Zentral- und Osteuropa hergestellt werden und über den zweitgrößten Hafen Europas in alle Welt verschifft werden: Stahl, Autos, Maschinen. Ein lukratives Geschäft, das Rail & Sea gerne ausbauen würde. Doch weil jetzt nach jahrelangem Verfall zumindest die gröbsten Mängel am Schienennetz behoben werden, gibt es noch weniger Platz und noch mehr Verspätungen auf den Gleisen. “Wir haben in mehreren Ländern Schwierigkeiten wegen Infrastrukturarbeiten, unter anderem in Deutschland. Das ist ein echtes Problem für uns”, sagt Moehlig. Weil jetzt überall gleichzeitig gebaut wird, kommen seine Züge auf einigen Strecken kaum mehr durch. “Es wäre eine Aufgabe der EU, das zu koordinieren, damit nicht jedes Land sein eigenes Ding macht”, fordert der Logistiker.
Vorschriftendschungel und Sprachbarrieren
Die EU in die Pflicht nehmen will auch Oberösterreichs Infrastrukturlandesrat Günther Steinkellner (FPÖ). Die im Bahnbereich immer noch gelebte Kleinstaaterei bringe niemandem etwas: “Das wäre eine ganz wichtige Aufgabe für die Europäischen Union. Sie müsste die verschiedenen Hindernisse, die zwischen den einzelnen Ländern in der Abwicklung des Bahnverkehrs bestehen, endlich beseitigen und den Bahnbetrieb europaweit harmonisieren. Alle reden von der Verlagerung auf die Bahn und dann gibt es gewaltige administrative Hindernisse.” Dazu gehört auch die Sprachbarriere, die bis heute die allermeisten Lokführer dazu zwingt, im Grenzbahnhof von der Maschine zu steigen und den Zug einem Kollegen zu übergeben. “Es ist absurd, dass der Lokführer gewechselt werden muss. Das kommt aus einer Zeit der geschlossenen Grenzen und Märkte, wo jedes Land sein eigenes Nest besonders geschützt haben wollte. Im heutigen Europa bringt das nichts”, sagt Steinkellner im Interview mit Life Radio-Redakteur Daniel Kortschak.
Wenn es etwas bringt, dann eines: einen Haufen Probleme. Dienstpläne müssen an die sprachlichen Fähigkeiten und die abgelegten Prüfungen der einzelnen Lokführer abgestimmt werden, kommt dann der Fahrplan durcheinander, wird die Disposition schnell zu einem gordischen Knoten, der für stunden-, wenn nicht tagelange Verzögerungen sorgt. Probleme, die dem Lkw einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil verschaffen: Dass zum Beispiel ein Fahrer aus Moldawien mit einem in Rumänien zugelassenen Lastwagen Waren grenzenlos quer durch Europa karrt, ist heute längst eher die Regel als die Ausnahme. Ob sich der Lkw-Lenker im Ausland irgendwie verständlich machen kann, interessiert dabei niemanden. Auch Kenntnisse über länderspezifische Verkehrsvorschriften sind anders als bei der Eisenbahn kein Thema. Jeder, der einen EU-, EWR- oder Schweizer Führerschein hat, genießt in ganz Europa freie Fahrt. Wie die Verständigung im Notfall oder bei einer der raren Verkehrskontrollen klappt, bleibt dann dem Fahrer und der Improvisationskunst der Einsatzkräfte überlassen.
Solche Zustände, wie sie auf Europas Autobahnen längst Alltag sind, wünscht sich auf dem Schienennetz niemand. Dennoch brauche es dringend eine Vereinfachung, sagt Speditionschef Moehling: “Es ist ein Unding, dass man nicht mit einer oder maximal zwei Sprachen arbeiten kann. Man sollte sich auf Englisch einigen, so dass man in ganz Europa mit der englischen Sprache durchkommt. Das ist aus Sicherheitsgründen sehr wichtig. Es würde uns aber auch dabei helfen, wieder mehr geeignetes Personal zu finden. Das ist heute eine Riesenaufgabe.”
Autonom fahrende Züge als ferne Zukunftshoffnung
Auch Oberösterreichs Infrastrukturlandesrat Günther Steinkellner nennt den Personalmangel als eines der größten Probleme im Schienengüterverkehr und generell im Öffentlichen Verkehr. Es gebe einfach nicht genug Menschen, die zu den derzeitigen Bedingungen geeignet und bereit sind, eine Lok zu fahren oder einen Bus zu lenken. Eine einheitliche Betriebssprache im europäischen Eisenbahnverkehr alleine werde dieses Problem auf lange Sicht nicht lösen, sagt der freiheitliche Landespolitiker: “Es braucht große Kraftanstrengungen, um den Öffentlichen Verkehr aufrecht zu erhalten. Deshalb wird ein weiterer Schritt das autonome Fahren sein.”
Bis die ersten fahrerlosen Züge über Europas Gleise rauschen, wird es aber noch viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Denn zunächst einmal muss die weitere Verwahrlosung der europäischen Schieneninfrastruktur gestoppt werden. Und dann müssen die Sicherheitssysteme modernisiert werden. Denn so lange vor allem in Deutschland nach wie vor Tausende Weichen und Signale mechanisch per Drahtzug gesteuert werden und an großen Knotenbahnhöfen noch immer Eisenbahner mit bis zu 100 Jahre alter Technik, die längst im Museum stehen sollte, den täglichen Betrieb aufrecht erhalten müssen, wirken KI-gesteuerte Superzüge wie eine ferne Utopie aus einem anderen Jahrtausend.
Titelbild: Hödlmayr